Leseprobe:
Mein Studienkollege – der, den mein Onkel in ein eigenes Hotelzimmer gelegt hatte – fiel mir ein, während ich auf den vierten Gang hinunterschaltete, um den endlich rechts zufahrenden LKW zu überholen. Einmal gab er mir eine Erzählung, die er geschrieben hatte. In dieser Erzählung kommt es zu einer Begegnung zwischen einer Künstlerin und einem Studenten im Museo Nationale Etrusco. Sie verstecken sich, als der Museumswärter seine letzte Runde durch die Villa Giulia dreht, und lassen sich über Nacht einsperren. Neben dem Sarcofago degli Sposi verbringen sie eine heiße Liebesnacht. Danach sehen sie einander nie wieder. Fünfzehn Jahre später, der Student ist mittlerweile ein bekannter Moderator einer Kultursendung, entdeckt er in der Hamburger Kunsthalle ein neo-realistisches Bild. Es zeigt ihn neben dem Sarcofago degli Sposi: nackt, mit entrücktem Blick und einem enormen, erigierten Penis. Das Bild heißt le gioie della storia – die Freuden der Geschichte.
Warum mir mein Kollege damals die Erzählung gab, war offensichtlich. Er wollte erst Lob und dann Sex, wobei ihm die umgekehrte Reihenfolge wahrscheinlich auch recht gewesen wäre. Sex gab es übrigens keinen. Dass Arthur solchen wollte, und zwar mit mir wollte, vermutete ich, nein, hoffte ich. Aber die Implikationen des Naturhistorischen Museums? Sex als Motor der Evolution? Nein, etwas anderes als sexuelle Anspielungen musste seiner Entscheidung, sich dort zu treffen, zugrundeliegen. Etwas anderes war es, das er mir zu verstehen geben wollte. Ich zog den Scheibenwischerhebel an und sah durch das herabrinnende Wasser und die rhythmischen Bewegungen der Scheibenwischer auf die Fahrbahn, bis die Windschutzscheibe von Wasser und Schmutz befreit war.
(S. 91)
© 2018 Leykam Verlag, Graz